Reiseberichte


Australien
 
Australien Juli-August 2010 (Weltreise Tagebuch 110 - Borroloola Special) nächstes Tagebuch
Donnerstag 05.08. - Borroloola
Der Ort Borroloola befindet sich in den australischen Northern Territories im Südwesten des Gulf of Carpentaria direkt am Mc Arthur River und etwa eine Autostunde von der Küste entfernt. Bis zu den nächsten großen Städten, Alice Springs im Süden und Darwin im Norden, sind es jeweils etwa 1200km, die, nach europäischem Maßstab, kleine Stadt Katherine mit 11000 Einwohnern liegt immer noch etwa 700km entfernt. Ansonsten gibt es nur kleine Siedlungen im Umkreis, die meisten davon sind sogenannte geschlossene Aboriginal-Communities. Die australischen Ureinwohner hatten vor der Besiedlung durch die Europäer seit 60000 Jahren erfolgreich in diesem riesigen und sehr extremen Land überlebt und eine ausgeprägte Kultur entwickelt, die sich an den natürlichen Begebenheiten orientierte. Diesem gewachsenen Zustand machten die neuen Herren des Landes ein jähes Ende, sie mordeten und unterjochten die Menschen, schleppten Krankheitserreger mit sich, die das Immunsystem der Aboriginals nicht abwehren konnte und nahmen ihnen ihren Glauben und ihre Kultur. Übrig blieb ein entwurzeltes und gedemütigtes Völkchen, das anfällig ist für Krankheiten, Alkohol und Drogen und mit dem gesund umzugehen auch das moderne Australien nicht in der Lage ist. Noch in den 60er Jahren wurden im großen Rahmen Kinder aus Aboriginal-Familien herausgerissen, um sie in Kinderheimen zu guten Christenmenschen zu erziehen. Diese, als „Stolen Generation“ bezeichneten Menschen sind häufig noch heute auf der Suche nach ihren Herkunftsfamilien und -Stämmen. Viel von dem immensen Wissen über die Natur des Landes und wie man in ihr überlebt, ist in den vielen Jahren des Missbrauches verlorengegangen. Die alten Menschen, die es noch aus der Kindheit in sich tragen, sterben durch die veränderten Lebensbedingungen frühzeitig und nehmen ihr Wissen mit ins Grab. Die Jungen kennen nur noch die „Segnungen“ des westlichen Konsums und haben keine Ahnung mehr von Pflanzen und Tieren des Outbacks. In den hilflosen Versuchen, vergangenes Unrecht wieder gut zu machen, hat man inzwischen für die verbliebenen Aboriginals reservatartige Communities gebaut, wo sie ziemlich unter sich, fernab der „weißen“ Kultur, ein trauriges Leben auf Staatskosten, zwischen Wohlfahrtsgeld und Alkohol, fristen.

Ein solcher Ort ist Borroloola, wobei dieser 1100 Einwohner zählende Ort keine reine Aboriginal-Community ist, sondern den Status einer offenen Stadt hat, in der es auch einige Weiße gibt. Wir kamen nach drei Tagen Offroad-Abenteuer seit Burketown staubig und verschwitzt in die Stadt gefahren und hatten sofort den Eindruck, von dem hochzivilisierten Land Australien, das wir bisher kannten, in das tiefste Afrika versetzt zu sein. Neben der schmalen Teerstraße nur trockener roter Staub, durch den nackte schwarze Füße schlurften. Häuser mit großen Mengen Müll im „Garten“, alte lärmende Autos voller Kleinkinder auf dem Rücksitz, aus dem kahlen Gebäude, das als Einkaufsladen dient, wurden große Kartons voller Bier hinausgeschleppt. Stumpfe, teils abweisende, teils scheue Gesichter, abgerissene Kleidung. Auf der Suche nach einem Zeltplatz abseits des Getümmels wurden wir zur Boots-Rampe an den Fluss verwiesen, doch hatten wir gleich den Verdacht, dass dort wohl abends die eingekauften Biermengen verzehrt werden würden und verzichteten auf diese Erfahrung.

Doch bekamen wir von den vielen Kindern, die uns dort umringten, einen wertvollen Hinweis: in der örtlichen Schule arbeitet eine Lehrerin aus dem deutschsprachigen Raum! Als wir am nächsten Tag wieder in die Stadt kamen, suchten wir die Schule auf und verabredeten einen Gesprächstermin mit Maria, der österreichischen Lehrerin, die hier seit ein paar Monaten arbeitet. Die Schulsekretärin führte mich dazu in den Klassenraum, in dem Maria eben mit 26 Knirpsen Computerunterricht abhielt. Zwischen Tür und Angel versuchte ich ihr in kurzen Worten zu erzählen, was ich von ihr wollte, dann musste sie schnell wieder in die Klasse, bevor ihr die Kontrolle über das Geschehen dort völlig entgleiten würde. Bis zu ihrem Feierabend hatten wir nun noch Zeit, in der wir die kleine lokale Bücherei zwecks eines Mailchecks aufsuchten. Die Bibliothekarin seufzte über einen Virus im System, der die Rechner lahmgelegt hätte und freute sich sehr über Thomas´ Angebot, einen Blick auf das Problem zu werfen. Während er am arbeiten war, erzählte sie mir, ohne Punkt und Komma, alles, was ihr zur Situation der Stadt einfiel. Z.B. über die große Brücke über den Mc Arthur River, die seit ein paar Monaten für einen Preis von 70 000 000 Dollar gebaut wird. Die ganze Gegend wird jedes Jahr von heftigen Regengüssen und Zyklonen heimgesucht, bei denen oft Wassermengen in drei Tagen vom Himmel fallen, die sonst das ganze Jahr über zusammenkommen. Dann ist die Stadt für Wochen oder auch Monate vom Rest der Welt abgeschnitten, alle Versorgung findet nur noch über die Luft statt. Nun leben auf der anderen Seite des Flusses ein paar wenige Menschen, die über die bisherige „Low Level Bridge“, bei Hochwasser nicht mehr in die Stadt gelangen können. Angeblich wird die neue Riesenbrücke, die nach Einschätzung ortskundiger Menschen trotz ihrer 7 Meter Höhe bei vielen Hochwassern noch überflutet werden wird, für diese paar Familien gebaut, die, nach Angabe meiner Gesprächspartnerin, sowieso in der Regenzeit ihr Camp verlassen und in die Stadt ziehen. Die Schotterstraße, auf der wir in die Stadt gekommen sind, ist in den nassen Sommermonaten, nicht befahrbar, also dafür wird die Brücke nicht gebraucht. Wofür wird dieses Geld ausgegeben, das an so vielen anderen Stellen fehlt?

Dann kam sie auf das leidige Thema Alkohol zu sprechen. Wir hatten häufig an den Communities große Schilder gesehen, die darauf hinwiesen, dass diese Community eine „prescribed area“ sei, in der der Besitz und Konsum von Alkohol, Drogen und Pornographie nicht erlaubt sei. Regelmäßig gehen mit diesen Schildern große Haufen von leeren Bierdosen am Straßenrand außerhalb der Orte einher, was hat das zu bedeuten?
Val, meine Gesprächspartnerin, erklärte mir, dass die Communities aufgrund der überall in den Aboriginalgegenden vorherrschenden Alkoholprobleme finanzielle Vorteile seitens der Regierung genießen, wenn sie sich selbst zur sprit- und drogenfreien Zone erklären. Deshalb müssen sie das Saufen nicht aufgeben, nein, sie dürfen nur innerhalb der Zone nicht mehr trinken. Also fahren sie ein Stück raus aus dem Ort, betrinken sich dort, schmeißen die leeren Dosen in die Gegend und fahren dann besoffen wieder nach Hause. Hier in Borroloola, wo sich aufgrund des speziellen Status der offenen Stadt nur die einzelnen Wohncamps zur „prescribed area“ erklären können, was aber im Prinzip genauso funktioniert, bemühen sich einige Leute darum, diesen Unsinn abzuschaffen, denn es sind bei den unweigerlich vorkommenden Autofahrten unter Alkoholeinfluss schon zwei Menschen umgekommen und etliche verletzt worden.

Arbeiten tun nur die wenigsten der Bewohner Booroloolas, die meisten leben von Wohlfahrt und Kindergeld. Natürlich haben sie Langeweile und natürlich sind sie unzufrieden, was sollen sie da tun, außer im Schatten zu sitzen und zu trinken. Und was sonst noch aus der ganzen Misere folgt, wie häusliche Gewalt oder die Unfähigkeit, die vielen Kinder regelmäßig zur Schule zu schicken. Kürzlich wurde einer jungen Mutter ihr Baby weggenommen, weil sie es mit Bier gefüttert hatte, damit es länger schlafen würde... Von einem Selbstmord gerade vor ein paar Tagen erzählt mir Val. Eine junge Frau von Mitte 20, die hier aufgewachsen, dann mit ihren Eltern weggezogen und nun nach Borroloola zurückgekommen war, um im Amt zu arbeiten und sich für ihre Stadt zu engagieren, wurde von anderen als Außenstehende gemobbt und konnte die Situation nicht verkraften... Viele Hilfsangebote gehen ins Leere, weil die Menschen von zugereisten Helfern nicht lernen mögen („die haben doch keine Ahnung, die kommen nicht von hier!“). Andererseits gibt es Versuche, z.B. die große Quecksilber- und Zinkmine, die dem Ort zusätzliche Versorgung und Gelder verschafft, per Gericht schließen zu lassen, weil sie nach der Meinung einiger Aboriginals auf ehemaligem Stammesgebiet stehe, das zurückgegeben werden müsse. Jahrelange Streits mit mühsamen Recherchen der Geschichte kosten wieder Unmengen von Geld und vor einiger Zeit musste die Mine für Monate ihre Arbeit herunterfahren. Da sei dann das Geschrei groß gewesen, sagt Val, weil auf einmal der Laden nur noch halbsoviele Waren anbieten konnte. die 300 Arbeiter der Mine seien ausgeblieben und viele der Lebensmitteltransporte laufen immer über die Mine, in der auch einige Aboriginals arbeiten (die natürlich ihre Arbeit behalten wollen und gegen die Schließung sind). Ein anderes Thema sind die speziellen Probleme der jungen Leute, die in diese kaputte Welt hineinwachsen. Mit zehn Jahren hängen etliche von ihnen schon an der Flasche und an den diversen Drogen, die auf dunklen Pfaden in die Stadt gelangen. Extasy und andere moderne Drogen fanden ihren Einzug in die Stadt, sorgen dafür, dass die Jugendlichen die ganze Nacht über feiern und sich gegenseitig bekämpfen, in Häuser einsteigen, um sich Geld für mehr Drogen zu beschaffen (aha, darum die hohen Zäune und die vielen großen Hunde auf den Grundstücken!) und natürlich nichts aus ihrem Leben machen. Freizeitangebote, die dafür sorgen würden, dass die Kids abends müde sind und ins Bett gehen, gibt es nicht viele. Es gibt ein Schwimmbad (im Fluss sind ja bekanntermaßen Krokodile), das aber auch eben heute erst wieder eröffnet wurde, nachdem es wegen Personalmangels lange geschlossen war. Ein paar junge Leute hatten eine Ausbildung als Bademeister bekommen, hatten aber nach kurzer Zeit keine Lust mehr auf den Job und hörten wieder auf. Nun wird ein neuer Versuch mit neuen Leuten gestartet. Ein zweites Standbein des Freizeitwesens ist der Fußball. Es gab für einige Zeit sehr agile Freiwillige, die mehrere Mannschaften aufstellten und dafür sorgten, dass drei- viermal pro Woche Fußball angesagt war. Das hat den Jugendlichen gefallen und es bildeten sich ernstzunehmende Talente heraus, die auch auf überregionalen Turnieren erfolgreich waren. Einige junge Spieler wurden sogar im Ausland bekannt und seitdem spielen einige von ihnen in Singapur, haben also den Sprung aus dem Sumpf geschafft. Doch auch der Fußball erfordert e mehr Initiative, als auf Dauer vorhanden ist und darum gibt es jetzt nur noch eine Mannschaft, die einmal pro Woche unter der Leitung des Hausmeisters der Schule trainiert, einem engagierten älteren Mann aus Tasmanien, den wir vor dem Schulgebäude trafen, als wir auf Maria warteten. Es gibt also mal Fortschritte, mal Rückschläge und währenddessen wachsen Kinder heran, deren Chancen auf ein selbstverantwortliches und erfülltes Leben mit jedem Tag schlechter werden.

Thomas beendete seine Reparaturarbeiten am Computer und die dankbare Val entließ uns mit einem freundlichen Gruß an Maria, mit der wir nun in ihrem Zuhause verabredet waren. Wir fanden die angegebene Adresse in einer Siedlungsstraße und dort sahen wir Maria mit Angas, dem vierjährigen Sohn ihres Partners und zwei wonnigen halbwüchsigen Welpen im trockenen Garten stehen. Sie öffnete uns freundlich das Tor im hohen Zaun, wir fuhren hinein. Das Haus, voll möbliert und mit vier Räumen und einer überdachten Terrasse relativ groß, ist Marias Dienstwohnung, für die sie keine Miete zu bezahlen braucht. Ohne solche Vergünstigungen sind so weit draußen keine Lehrer zu bekommen und trotzdem bleibt kaum einer lange hier. Shane, Marias australischer Partner, hat einen Job beim Amt gefunden und ist dort für alle Maschinen zuständig. Er klagte über den schlechten Zustand der Maschinen, die immer erst repariert werden müssen, bevor man sie gebrauchen kann. Heute hatte er die Landepiste der kleinen Versorgungsflieger von groben Steinen freigefegt, damit sie sich deim Landen die empfindlichen Reifen nicht beschädigen. Ihm gefällt es hier. Er ist im Outback von New South Wales auf einer großen Rinder- und Schaffarm aufgewachsen und liebt das Leben im Busch. Er kennt sich gut aus und geht gerne jagen oder angeln. Stolz erzählte er davon, dass er vor Kurzem einen großen wildlebenden Büffel mit weit ausladendem Gehörn geschossen habe. Er hat nur die Trophäe mitgenommen und etwas Fleisch. Das Meiste habe er liegenlassen müssen. Aber durch die Trophäe, wie auch durch den, wie er sagt, gefährlichen Pitbullterrier, der das Grundstück bewacht, habe er in der neuen Heimat gleich den Ruf eines ganzen Mannes bekommen und das helfe dabei, dass sie hier in Frieden leben würden könnten. Der gefährliche Hund wurde später, als wir alle auf der Terrasse saßen, von der Kette gelassen und er ließ sich gerne von Thomas den Kopf kraulen. Später kam die freundliche Val vorbei und brachte eine große Tüte mit gefrorenem Barramundi, wohl als Dankeschön für Thomas´ Hilfe mit dem Rechner. Maria bereitete uns daraus einn leckeres Abendessen, wenn auch der Verursacher der Spende als Vegetarier nicht vom Fisch aß. Doch auch an ihn hatte Maria gedacht und wir wurden alle satt. Als der kleine Angas schlafen gegangen war, sprachen wir von unserem Projekt ConnectingKids und boten an, den hiesigen Schulkindern ein paar Geschichten unserer Reise zu erzählen. Maria war sehr angetan, hatte aber Bedenken, ob der neue Rektor der Schule unsere Anwesenheit im Unterricht wohl erlauben würde. Sie sagte, seitdem sie in Australien arbeiten würde, habe sie die andere, überbürokratische, Seite des Landes kennengelernt und darum wollte sie den Dienstweg einhalten und erst um Erlaubnis fragen. Wir verabredeten, am nächsten Morgen vor Unterrichtsbeginn gemeinsam zur Schule zu gehen und den Rektor zu fragen. Wie sich, nach einer unruhigen Nacht mit gröhlenden Besoffenen in einiger Entfernung, bellenden Hunden überall um uns herum und einer, nun bei mir, beschleunigten Verdauung, herausstellte, war ihre Sorge leider berechtigt: der Rektor wollte mich nicht einmal begrüßen. Wenn ich nicht ein polizeiliches Führungszeugnis dabei hätte, das mich als ungefährlich für die Sicherheit der Kinder ausweisen würde, könnte er meinen Besuch im Unterricht nicht zulassen. War das nun ein Witz? Nein, es war keiner!
Was für ein Anachronismus! Diesen armen Würmern, denen täglich zuhause Gewalt und Konfrontation mit diversen Suchtmitteln auflauern, darf ich keine Geschichten erzählen und keine Bilder zeigen, weil ich eine Gefahr für sie darstellen könnte?? Kopfschüttelnd ging ich zurück zu Marias Haus und Maria in ihren Unterricht. Nun bleibt uns nur die Möglichkeit, eine DVD mit Bildern und der Vorstellung unseres Projektes zu brennen, die Maria dann potentiell interessierten Kollegen und Kindern vorführen kann. Wie schade, so eine verpasste Chance! Wir hatten gemeinsam schon Pläne für mehrere Tage in der Schule mit verschiedenen Klassen geschmiedet... Trotzdem bleiben wir nun heute noch in Borroloola und halten einen Schreib- und Waschtag ab, während unsere Gastgeber ihren verschiedenen Tätigkeiten nachgehen. Thomas ist gerade nochmal zur Bücherei gefahren, um weiter an den Rechnern zu werkeln, die die einzige reelle Internetmöglichkeit des Ortes darstellen. Wenn sie denn funktionieren... Als er nach drei Stunden wiederkommt, erzählt er, dass seine Aktion erfolgreich war und Val ihm, überglücklich, ein anerkennendes Taschengeld für seine Bemühungen gegeben hat. Wie schön, dass wir uns mal nützlich machen können.

Abends sitzen wir wieder mit Shane und Maria zusammen und lassen uns erzählen, während in der gesamten Stadt, wie jeden Donnerstag, der Zahltag der Sozialhilfe gefeiert wird. Aus vielen Häusern schallt laute Musik, die von den angetrunkenen Menschen mit noch lauteren Stimmen übertönt wird. Bis spät in die Nacht wird gefeiert, wir versuchen, mit Ohrstöpseln, zu schlafen...
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